Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung als höchster Grad freier Selbstbestimmung?

Wir sagen NEIN! Positionspapier zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes

Liebe Genoss*innen,

der Sprecher*innerat der BAG hat gemeinsam mit anderen Genoss*innen das nachstehende Positionspapier zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes erarbeitet. Wer von Euch das Papier mit unterzeichnen möchte und damit einverstanden ist, daß es veröffentlicht wird, schreibt bitte eine mail an: rolf.kohn@die-linke.de und nennt den Zusatz, der dem Namen beigefügt werden soll: z.B. Mitglied im Sprecher*innenrat der BAG Selbstbestimmte Behindertenpolitik....

Hier geht es zum Positionspapier als PDF

Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung als höchster Grad freier Selbstbestimmung?   Wir sagen NEIN!

Wir sagen NEIN zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 26. Februar 2020 und protestieren dagegen auf das Schärfste. Durch dieses Urteil wird das im Dezember 2015 eingeführte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig und der Paragraf 217 im Strafgesetzbuch für nichtig erklärt. Statt den Paragrafen 217 StGB zu streichen, fordern wir eine Regelung, die jedwede geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung sowie Beihilfe von Ärzten*innen und sonstigem medizinischen Personal sowie von Angehörigen und Nahestehenden beim Suizid verbietet. 

Wo liegen die Gründe für unsere Überzeugung?

Töten gesellschaftsfähig zu machen, widerspricht unserem Menschenbild. Was ist das für eine Gesellschaft, die das Sterben über das Leben stellt? Die Realität zeigt: In Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, sind Tausende Menschen obdachlos. Menschen erfrieren im Winter auf der Straße. Menschen sterben aufgrund eines politisch geduldeten Pflegenotstandes in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Menschen werden krank aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen. Sind sie nicht mehr wirtschaftlich verwertbar, werden sie aussortiert. Menschen mit Behinderungen wird ständig vorgerechnet, dass der Ausgleich von behinderungsbedingten Nachteilen unter Kostenvorbehalt stehe. Und sind Menschen arm, sterben sie bis zu zehn Jahren früher.

All diesen Menschen, denen man keine Selbstbestimmung im Leben zuteilwerden lässt, will man nun einen „selbstbestimmten“ Tod ermöglichen? Welche Heuchelei! Welcher Zynismus! Für uns reiht sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ein in eine Kette von Entscheidungen, die in der letzten Zeit gefallen sind. Wir denken dabei unter anderem an die verschiedenen biomedizinischen Praktiken wie der Präimplantationsdiagnostik, an die kassenärztliche Freigabe vorgeburtlicher Bluttests auf Trisomien und an das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz. Uns erschrecken ebenfalls die Autismus-Studien der Uni Marburg, wo unter dem Deckmantel der Gesundheitsökonomie und der vermeintlichen Verbesserung der Lebenslage von Autistinnen die Lebenszeitkosten dieser Menschen erforscht werden sollen.

Das sind aus unserer Sicht Fakten, die deutlich machen: Es geht in dieser Gesellschaft immer um die Frage, ob und in welchem Maße Menschen wirtschaftlich verwertbar sind oder ob sie aufgrund von Alter, Krankheit oder Behinderungen Kosten verursachen. Dafür wird das Lebensrecht von Menschen in Frage gestellt. Die Propaganda für ein Töten auf Verlangen ähnelt der Propaganda deutscher Faschisten, die in einem straff organisierten und technisch aufs höchste perfektionierten System Menschen aus dem Leben in den Tod beförderten. Sie diskreditierten Menschen als „unnütze Esser“, die der „Volksgemeinschaft“ nur „Kosten“ bescherten und die „Volksgesundheit“ insgesamt beeinträchtigten. Man wollte sie von ihren „ewigen Leiden befreien“. Die Faschisten scheuten nicht vor massenhafter Ermordung zurück - von Juden, Kommunisten, Sinti und Roma, Sozialdemokraten, Homosexuellen, Nicht-Ariern, nicht zuletzt von Menschen mit Behinderungen.

Diese Gefahr ist längst nicht gebannt.

Im Gegenteil: Die Aussonderung von Menschen wird heute nur geschickter verpackt. Man gaukelt den Menschen vor, dass Behinderungen und Leid angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten verhindert werden könnten. Und dass man am Ende des Lebens die Möglichkeit hätte, frei und selbstbestimmt zu entscheiden, wie und wann man denn sterben wolle. Diese angebliche Freiheit ist aus unserer Sicht Teil der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft, die unter dem Etikett „Selbstbestimmung“ als vorsätzliche Täuschung der Öffentlichkeit daherkommt. Doch in Wirklichkeit sitzen wir damit einer Manipulation auf, die versucht, die neoliberale Ausbeutungs- und Zerstörungsstrategie als Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben auszugeben.

Dass man den assistierten Suizid zum höchsten Grad freier Selbstbestimmung erklärt, ist aus unserer Sicht angesichts von Millionen von Menschen, die sich in einer bedrohlich schlechten Lebenslage befinden, menschenverachtend. Das zeigt zum Beispiel eine im Februar dieses Jahres veröffentlichte Studie des Niederländischen Gesundheitsministeriums: Mehr als 10.000 Niederländer denken über Suizid nach: 56% aus Einsamkeit, 42% haben die Sorge, anderen Menschen zur Last zu fallen und 36% aus akuten Geldsorgen.

http://www.imabe.org/index.php?id=2685

Ärzt*innen ist es heute aufgrund der Fortschritte in der Medizin möglich, Schmerz und Leid schwer kranker und sterbenden Menschen in ausreichendem Maße zu lindern, medizinische Maßnahmen zu unterlassen, zu reduzieren oder abzubrechen, aber nicht zu töten. Statt Inklusion und Teilhabe für alle Menschen endlich umzusetzen, engen weiterhin reine „Kosten-Nutzen-Rechnungen“ ihre freien Entfaltungsmöglichkeiten ein.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes lässt uns deshalb befürchten, dass nicht nur der Druck auf Menschen steigen wird, Suizid zu begehen. Nein, hier soll die Grundlage dafür geschaffen werden, Geschäfte mit dem Sterben zu machen. Hier wird folgenschwer die Tür zu Faschismus und Euthanasie erneut weit aufgerissen.

Wir fordern die Verantwortung des Sozialstaates ein, der die Pflicht hat, Bedingungen zu schaffen - also auch Mittel bereitzustellen - unter denen die ihm anvertrauten Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht, ihre Grundrechte, wahrnehmen können. Die Würde des Menschen schließt auch einen würdevollen Prozess des Sterbens ein. Statt Manipulation und Geschäftemacherei – also Sterben nach Marktregeln - fordern wir eine menschenwürdige pflegerische und palliative Versorgung bis zum letzten Atemzug.

Erstunterzeichner*innen:

Margit Glasow                                      Inklusionsbeauftragte der Partei DIE LINKE

Dr. Ilja Seifert                                       Mitglied im Vorstand der Partei DIE LINKE

Sonja Bay, Florian Grams,                    Sprecher*innenrat der BAG Selbstbestimmte

Birger Höhn, Utz Mörbe,                       Behindertenpolitik

Ulrike Haase, Kristina Schulz,

Jörn Weichold, Julia Wolter,

Manfred Wolter

                   

Dr. Marianne Linke                     Mitglied im der BAG Gesundheit und Soziales

Helga Ebel                                  Mitglied im Sprecherteam der BAG Gesundheit und Soziales            

Ilsegret Fink                               Pastorin i.R., AG Christinnen und Christen

Prof. Dr. Heinrich Fink                Theologe, AG Christinnen und Christen

Dr. med. Christiane Fischer         Mitglied des Deutschen Ethikrates 2012-2020

Anja Röhl                                   Sonderpädagogin, Autorin, Dozentin

Rolf Kohn                                   Koordinator der BAG Selbstbestimmte Behindertenpolitik